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Eine andere Art von Demokratie

Von Martin Glaberman


Der folgende Artikel ist eine Einleitung zu „Every Cook can govern“ von C.L.R. James. Er wurde (mit Einverständnis des Autors) leicht abgeändert. 1991 feierte man den 2500. Geburtstag der Demokratie, die erstmals im antiken Griechenland eingeführt wurde. Würdenträger verschiedener westlicher Demokratien wohnten der Zeremonie bei. Diese Feierlichkeiten erscheinen heuchlerisch, wenn man bedenkt, dass die moderne parlamentarische Demokratie heute häufig gegen die Prinzipien der direkten Demokratie des antiken Athens verstößt.

Was in der modernen Welt als Demokratie durchgeht, wird normalerweise von den Bürgern dieser Staaten, die sich Demokratien nennen, missachtet.

In diesem Jahrhundert waren die führenden Demokratien, allen voran die Vereinigten Staaten, in zwei verheerende Weltkriege verwickelt. Man plünderte Lateinamerika, Afrika und Asien aus, unterstützte brutale Diktaturen, wann immer es in die imperialistischen Interessen passte, usw. Gleichzeitig schafften die sogenannten Demokratien es nicht, ihren Bürgern ein Minimum an Komfort und Kultur zu geben, wozu eine moderne technologische Gesellschaft normalerweise im Stande ist.

Die menschliche Rasse und die Welt, in der wir leben, befindet sich in einer aussichtslosen Lage. Armut, Arbeitslosigkeit, Rassismus, Sexismus und Engstirnigkeit sind in dieser modernen Welt zu Hause. Die Industrialisierung in den letzten zwei Jahrhunderten hat einen verheerenden Schaden in der Umwelt angerichtet. Menschen verhungern, aber nicht, weil es nicht genug zu Essen gibt, sondern weil Essen nur verkauft wird, wenn man damit Profit machen kann. Selbst die reichsten Nationen sind hoch verschuldet. Korruption ist in der Politik und Wirtschaft allgegenwärtig. Krankheiten, willkürliche Gewalt und Obdachlosigkeit gibt es in jeder größeren Stadt. Arbeit ist für die meisten Menschen nur noch Schufterei, die Möglichkeiten, kreativ zu sein, nehmen immer mehr ab.

Im Oktober 1956 demonstrierten die Menschen in Ungarn, das unter einer kommunistischen Diktatur stand, und zeigten, wie eine revolutionäre direkte Demokratie funktionieren könnte. Zu einer großen Gruppe von Studenten und Intellektuellen, die sich in Budapest versammelten, gesellten sich Tausende von ungarischen Arbeitern. Sie bildeten Betriebsräte und übernahmen innerhalb von 48 Stunden die gesamte Produktion, den Dienstleistungsbereich und die Kommunikation in Ungarn. Die älteste kommunistische Regierung war abgeschafft. Die Ungarn hatten sich einen Weg gebahnt zu einer neuen Gesellschaft, die weder kommunistisch (im Sinne eines Kommunismus, wie er in Osteuropa und der Sowjetunion herrschte) noch kapitalistisch war. Es gab nichts und niemanden in Ungarn, der sie von ihrem Versuch abhalten konnte, eine neue Gesellschaft zu gründen.

Die Revolution wurde von den sowjetischen Panzern gestoppt. Der Westen mit den USA an der Spitze nutzte jeden Propagandanutzen, den er aus der sowjetischen Besetzung kriegen ziehen konnte und sorgte dafür, dass der ungarische Volksaufstand nicht auf andere Länder übergreifen würde.

Vor dem Jahre 1956 hatten die Radiosender Radio Free Europe und Voice of America die Osteuropäer zu einer Revolte aufgerufen. Danach hörte man nie wieder eine solche Forderung (während die Sowjetunion den Ungarischen Volksaufstand niederschlug, griffen England, Frankreich und Israel Ägypten an, um den Suezkanal zu erobern).

Der ungarische Volksaufstand war eine direkte Demokratie in unserer modernen, industriellen Welt. Die Arbeiter und anderen Revolutionäre handelten nicht durch gewählte Politiker. In den Betriebsräten trafen sie ihre eigenen Entscheidungen, um selbst auf ihr Leben und ihre Gesellschaft Einfluss nehmen zu können. Die Angestellten eines Unternehmens trafen sich täglich, um Entscheidungen zu treffen. Delegierte wurden bestimmt, die dann die getroffenen Entscheidungen in der Stadt oder in der Region bekannt machten. Delegierte konnten jederzeit zurückgerufen werden.

1968 passierte Ähnliches in Frankreich. Die gesamte Arbeiterklasse besetzte die Fabriken Frankreichs und hätte beinahe die Regierung De Gaulles gestürzt. Im gleichen Jahr versuchten die Bürger der Tschechoslowakei dasselbe und wurden ebenfalls von den Sowjets gestoppt. 1980 entstand nach jahrelangen Bemühungen eine direkte Demokratie in Polen und zwar in Form der Solidarität (mit dem Begriff Solidarität meine ich allerdings nicht die Tatsache, dass Lech Waleşa 1990 versuchte, polnische Fabriken an amerikanische Kapitalisten zu verkaufen).

Es ist noch nicht lange her, dass die Welt den Niedergang der totalitären Diktaturen in Osteuropa und in der Sowjetunion miterlebt hat. Wir müssen begreifen, dass die ersten Versuche, das sowjetische Reich zu schwächen, aus Osteuropa und teilweise aus Westeuropa kamen. Der anhaltende Widerstand der Arbeiterklasse und die revolutionären Versuchen, eine direkte Demokratie einzuführen, machten Osteurope und die Sowjetunion unregierbar. Die Revolutionen in diesen Ländern und die Versuche, neue Gesellschaften zu gründen, haben gerade erst begonnen. Das Tian`anmen Massaker in China, der Sturz von Militärdiktaturen in Afrika und die Menschenmengen, die sich während des Augustputsch in Moskau versammelten, sind bekannte Beispiele dafür. Weniger bekannt ist der Streik der sowjetischen Bergarbeiter im Jahr 1989. Die Streikausschüsse wurden zu Zentren für ganze Gemeinden. Mit dem Slogan „Perestroika von unten“ begannen diese Ausschüsse politische Funktionen zu übernehmen.

Westliche Politiker und Journalisten ließen uns in dem Glauben, dass diese Kämpfe und Opfer beabsichtigt waren, um die totalitären Diktaturen durch einem Staatskapitalismus mit „freiem Unternehmertum“ und einer Demokratie, wie wir sie kennen, zu ersetzen. Sie versuchten, uns zu überreden, dass wir in der besten Gesellschaft leben, die wir uns nur vorstellen können, und dass Gier, Korruption, Armut und Gewalt in unserer Welt nur kleine Schönheitsfehler sind.

Im Westen sind sie Unterschiede zwischen Politikern gering und nur von kosmetischer Natur. Ihre Politik, Reden und Versprechen dienen nur dazu, die Wählerschaft anzulocken.Die Wahlkampfrede wurde auf acht Minuten verkürzt. Das Ziel der politischen Parteien ist nicht, ihre Macht weise einzusetzen, sondern lediglich an noch mehr Macht zu gelangen.

[Die] Mängel einer repräsentativen Demokratie sind den Bürgern durchaus bewusst. Die Haltung Politikern gegenüber ist oft von Wut und Verachtung geprägt.

In Kanada haben ungeschickte und heimlichtuerische Versuche der Regierungen auf Bundes- und Provinzebene, die Verfassung zu ändern, dazu geführt, dass die Einführung einer konstituierenden Versammlung gefordert wurde. Diese sollte sich aus nichtpolitischen Vertretern zusammensetzen und Volksabstimmungen beinhalten. In den Vereinigten Staaten, in denen die Hälfte der möglichen Wahlleute wegen des Wahlsystems gar keine Ämter mehr bekleiden will, wurde vorgeschlagen, die Anzahl der Amtsperioden der Abgeordneten auf Bundes- und Staatenebene zu limitieren.

Die ist zwar noch lange keine direkte Demokratie wie beim ungarischen Volksaufstand oder im alten Griechenland, zeigt aber dennoch, dass man mittlerweile nicht mehr unbedingt von professionellen Politikern regiert werden will (wie es in einer repräsentativen Demokratie der Fall ist).

Wir wollen damit nicht sagen, dass die Demokratie im antiken Griechenland perfekt war oder dass man sie einfach auf die moderne Welt übertragbar kann. So gab es in Griechenland Sklaverei und Frauen waren nicht gleichberechtigt (wie damals in allen Gesellschaften im Mittelmeerraum und in Asien). Die Bürger im antiken Athen unterschieden sich aber von den anderen Gesellschaften, da sie aus dem Schema ausbrachen und neuen Formen der Selbstverwaltung schufen. Dass es ihnen nicht möglich war, alle Übel dieser Epoche zu beseitigen, dürfte nicht überraschend sein.

Wie nützlich ist dieses Beispiel für unsere riesigen industrialisierten Gesellschaften? Etwas, was den Griechen im hohen Maße gemein war, ist der Sinn für die Gemeinschaft. Heutzutage gibt es das kaum noch.

Wie können wir uns eine neue freie und kooperative Gesellschaft ausmalen, wenn wir doch in einer Welt gefangen sind, die von Gier und Engstirnigkeit geprägt ist? Die Antwort lautet nicht, neue Abgeordnete oder eine andere politische Partei zu wählen. Die Antwort lautet, sich den ungarischen Volksaufstand von 1956, die Französische Revolution von 1968, die polnische Solidarität von 1980 und die modernen Formen der direkten Demokratie des antiken Athens als Vorbild zu nehmen.

Wirtschaft und Politik dürfen nicht mehr länger getrennt werden. Menschen müssen direkt und nicht mit Hilfe von Vermittlern Einfluss auf ihren Arbeitsplatz, ihre Nachbarschaft und ihre Gemeinden haben können. Es muss möglich sein, einen Sinn für Gemeinschaft, für Einheit und Kooperation, schaffen zu können – und das ohne Bürokraten, Kapitalisten und Manager, die im Weg stehen. Dies wird mit Sicherheit zu großem Widerstand führen. Ungarische, französische und polnische Arbeiter konfrontierten die wirtschaftliche, politische und militärische Macht ihrer Gesellschaften. Entweder werden wir die Stärke haben, das Gleiche zu tun oder wir werden immer weiter ins Verderben geraten, das uns bereits jetzt zerstört.


Martin Glaberman

1997


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